Meine Eltern steckten mit drin, finanzierten ihr geheimes Leben und ihren „wahren“ Enkel. Sie hatten nicht nur eine geheime Familie versteckt; sie planten, mich loszuwerden.
Eine Sprachnotiz auf Jonas' Computer enthüllte ihren Plan: Mich mit Angstlösern unter Drogen zu setzen und für psychisch labil erklären zu lassen, sollte ich der Firma Ärger machen.
Die Liebe, von der ich dachte, sie sei meine Rettung, war in Wahrheit mein Käfig. Das naive Mädchen, das an ihre Zuneigung glaubte, starb an diesem Tag, ersetzt durch eine eiskalte, berechnende Wut.
Ein paar Abende später, bei einem Familienessen, schob meine Mutter ein Glas Wein zu mir herüber.
„Du siehst so blass aus, mein Schatz“, sagte sie. „Trink das. Es wird dir helfen, dich zu entspannen.“
Ich wusste, es war der erste Schritt ihres Plans. Der Wein war vergiftet. Ich lächelte, hielt ihren Blicken stand und trank das ganze Glas in einem langen Zug leer. Ihr Spiel war aus. Mein Spiel fing gerade erst an.
Kapitel 1
Lenas Sicht:
Meine Welt brach in dem Moment zusammen, als ich das Familienporträt sah, das nicht meines war.
Fünf Jahre lang war mein Leben ein sorgfältig aufgebautes Paradies gewesen. Ich war Lena Möller, die lange verschollene Tochter des Möller-Agrarimperiums, zurückgekehrt in den Schoß der Familie. Ich hatte liebevolle Eltern und einen perfekten Ehemann, Jonas, dessen sanftes Lächeln die Sonne war, um die sich meine ganze Welt drehte.
Er war mein Ein und Alles. Meine Eltern waren mein Ein und Alles. Sie waren die Anker, die mein halt- und orientierungsloses Leben nach Jahren im System endlich gesichert hatten. Ich schenkte ihnen mein Vertrauen, mein Talent, mein ganzes Herz.
Vor fünf Jahren hatten sie mir erzählt, Pia, die Adoptivtochter, die an meiner Stelle aufgewachsen war, sei bei einem tragischen Autounfall gestorben. Es war eine düstere Beerdigung am geschlossenen Sarg. Ich hatte sogar um das Mädchen getrauert, das mich gehasst hatte, das Mädchen, das mein erstes großes Projekt böswillig sabotiert und die Firma meiner Vorfahren beinahe in den Ruin getrieben hatte.
Ihr „Tod“ hatte sich wie der Abschluss eines dunklen Kapitels angefühlt, das endlich das Licht hereinließ.
Jetzt wusste ich, dass dieses Licht eine Lüge gewesen war.
Es begann mit einer falschen Abzweigung auf meinem Rückweg von einer Besichtigung. Eine Privatstraße, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, markiert mit einem kleinen, dezenten Logo der Möller Agrar AG. Neugier, ein dummer, schicksalhafter Impuls, ließ mich ihr folgen. Sie führte zu einem weitläufigen, idyllischen Anwesen im Alten Land, von dem ich nie wusste, dass es unserer Firma gehörte.
Und dort, auf dem sonnenüberfluteten Rasen mit einem kleinen Jungen spielend, war ein Geist.
Pia.
Sie lachte, ihr Haar glänzte im Sonnenlicht, sie sah lebendig und sehr, sehr lebendig aus. Und neben ihr, den kleinen Jungen in die Luft wirbelnd, war mein Mann. Mein Jonas.
Die Szene war so idyllisch, so voller Freude, dass mein Gehirn sich für einen Moment weigerte, es zu verarbeiten. Es war, als würde ich ein Foto aus dem Leben eines Fremden betrachten. Aber der Mann war unverkennbar Jonas, und die Frau war Pia. Der Junge, mit Jonas' dunklen Locken und Pias leuchtenden Augen, schien etwa vier Jahre alt zu sein.
Eine kalte, schwere Angst machte sich in meinem Magen breit, ein Gewicht so immens, dass ich das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können.
Ich parkte mein Auto hinter einem Dickicht aus Bäumen, meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum den Motor abstellen konnte. Ich schlich näher, versteckte mich hinter einer alten Steinmauer, mein Herz hämmerte gegen meine Rippen wie ein gefangener Vogel.
Ich konnte jetzt ihre Stimmen hören, getragen von der sanften Brise.
„Höher, Papa, höher!“, kreischte der kleine Junge vor Freude.
Papa. Das Wort traf mich wie ein Schlag.
„Vorsichtig, Jonas“, sagte Pia, ihre Stimme durchzogen von einer Zuneigung, die mein Blut in den Adern gefrieren ließ. „Dreh ihn nicht zu sehr auf vor seinem Mittagsschlaf.“
„Alles gut, nicht wahr, David?“, Jonas drückte dem Jungen einen Kuss auf die Stirn. „Mein kleiner Champion.“
Dann erreichten mich Pias Worte, legten sich um meinen Hals und drückten zu. „Danke für das hier, Jonas. Für all das. Dafür, dass du uns beschützt.“
„Immer“, antwortete er, seine Stimme im selben sanften, beruhigenden Ton, den er jeden einzelnen Tag bei mir benutzte. „Ich werde meine Familie immer beschützen.“
Meine Familie.
Die Welt geriet aus den Fugen. Die Sonne fühlte sich kalt an. Das wunderschöne Bauernhaus, die grünen Felder, das lachende Kind – alles verwandelte sich in ein groteskes Theater des Betrugs. Meine Ehe, meine Familie, mein ganzes Leben der letzten fünf Jahre … es war eine Bühne. Eine Tarnung. Eine Lüge, die dazu diente, sie zu schützen.
Eine Welle der Übelkeit überkam mich, so stark, dass ich mir die Hand auf den Mund pressen musste. Die Liebe, die ich geschätzt hatte, die Familie, nach der ich mich mein ganzes Leben gesehnt hatte – alles war nur ein Werkzeug, um ein Wirtschaftsverbrechen und eine geheime Familie zu verbergen.
Ich stolperte zurück zu meinem Auto, mein Körper bewegte sich wie ferngesteuert. Als ich nach meinen Schlüsseln tastete, summte mein Handy. Eine Nachricht von meiner Mutter.
`Wollte nur mal nach dir sehen, Süße. Alles in Ordnung?`
Die beiläufige Zuneigung war plötzlich monströs. Ich starrte auf den Bildschirm, meine Sicht verschwamm. Sie steckten alle mit drin. Meine Eltern, die mit mir um Pias „Tod“ geweint hatten. Sie waren Teil dieser Lüge.
Meine Finger bewegten sich, kalt und taub, und tippten eine Antwort. Es war ein rücksichtsloser, verzweifelter Test. Ein einzelnes Streichholz, das in einen mit Gas gefüllten Raum geworfen wurde.
`Alles gut. Habe auf dem Heimweg nur etwas Seltsames gesehen. Für einen Moment dachte ich, ich hätte Pia gesehen.`
Ich drückte auf Senden.
Die Reaktion kam sofort. Mein Handy summte nicht. Es klingelte. Es war mein Vater. Ich ließ ihn auf die Mailbox sprechen. Eine Sekunde später leuchtete Jonas' Handy auf, das ich von meinem Versteck aus auf der Picknickdecke sehen konnte. Er nahm ab, sein Rücken spannte sich an.
Mein eigenes Handy klingelte erneut. Diesmal war es Jonas. Die Anrufer-ID zeigte das lächelnde Foto von uns an unserem Hochzeitstag. Ein grausamer Witz.
Ich nahm ab, mein Hals war wie zugeschnürt. „Hallo?“
„Lena? Schatz, ist alles in Ordnung?“ Seine Stimme war erfüllt von dieser perfekten, einstudierten Sorge. „Dein Vater hat mich angerufen, meinte, du hättest eine komische Nachricht geschickt. Was soll das heißen, du hast Pia gesehen? Du musst völlig erschöpft sein.“
Ich lehnte meinen Kopf gegen das kühle Glas des Autofensters, meine Nägel gruben sich in das Fleisch meiner Handfläche. Der Schmerz war ein kleiner, scharfer Anker im wirbelnden Chaos meiner Gedanken. Ich musste ruhig bleiben. Ich musste meine Rolle spielen.
„Ich … ich weiß“, flüsterte ich und zwang ein Zittern in meine Stimme. „Du hast recht. Ich bin nur müde. Es war nur jemand, der ihr ähnlich sah. Es hat mich erschreckt, das ist alles.“
Es gab eine Pause. Ich konnte den Wind hören, der durch die Blätter raschelte, das ferne Lachen des kleinen Jungen.
„Natürlich, das ist alles, was es war“, sagte er, seine Stimme wurde vor Erleichterung weicher. Er hatte es mir abgekauft. „Hör zu, ich bin hier gleich fertig. Ich bin bald zu Hause und mache dir Abendessen. Wir können uns einfach entspannen. Okay, Schatz?“
„Okay“, brachte ich hervor.
Er kehrte zu seinem anderen Leben zurück, zu seiner echten Familie, wahrscheinlich mit dem Gefühl, gerade gekonnt einer Kugel ausgewichen zu sein.
Aber als ich auflegte, überkam mich eine eiskalte Klarheit. Der Mann, den ich geheiratet hatte, war nicht nur ein Lügner. Er war ein Fremder. Und die Liebe, von der ich dachte, sie sei meine Rettung, war in Wahrheit mein Käfig.