Also nahm ich das Gesetz in meine eigenen Hände. Ich entführte die Tochter des Oberstaatsanwalts, Lina Steinhoff, und sendete meine Forderungen in die Welt hinaus. Für jede Chance, die er verstreichen ließ, würde ich ein forensisches Werkzeug an ihr anwenden und sie dauerhaft entstellen.
Die Welt sah entsetzt zu, wie ich ihren Arm tackerte, ihn dann kauterisierte und mit einem Skalpell dünne rote Linien auf ihre Haut zog.
Mein ehemaliger Mentor, Dr. Huber, und die Freundin meines Sohnes, Alexandra, wurden hinzugezogen, um mich zu überzeugen, meinen Sohn als depressiv darzustellen, um einen gefälschten Abschiedsbrief zu präsentieren. Für einen Moment schwankte ich, der Schmerz, eine „schlechte Mutter“ zu sein, erdrückte mich.
Aber dann sah ich es – eine versteckte Botschaft in seinem „Abschiedsbrief“, ein geheimer Code aus seinem liebsten Kinderbuch. Er gab nicht auf; er schrie um Hilfe. Sie hatten seinen Hilferuf in eine Lüge verdreht.
Meine Trauer verbrannte und wurde durch eine unzerbrechliche Entschlossenheit ersetzt.
„Ich akzeptiere diesen Brief nicht“, erklärte ich und drückte den Kauterisationsstift auf Linas Bein, als das BKA hereinstürmte.
Kapitel 1
Mein Sohn war tot.
Der offizielle Bericht sprach von Selbstmord. Eine Überdosis Drogen. Mein Dustin, ein Leichtathletik-Star mit einem Vollstipendium, ein Junge, der seine Zukunft mit derselben Präzision plante, mit der er Hürden überwand, hatte anscheinend das Leben aufgegeben.
Ich wusste, dass es eine Lüge war. Ich war Beamtin bei der Kriminaltechnischen Untersuchung. Ich hatte die Leiche meines eigenen Sohnes untersucht.
Die Schürfwunden an seinem Rücken waren Asphaltabrieb. Die spezifischen Brüche in seinem Bein stammten von einem Stoßstangenaufprall. Die Spuren, die ich gefunden hatte, mikroskopisch kleine Lacksplitter, passten zu einer Luxuslimousine.
Er wurde ermordet. Fahrerflucht.
Ich reichte meinen ersten Widerspruch ein. Er wurde abgelehnt. Ich reichte einen zweiten ein, einen dritten, einen vierten. Jedes Mal legte ich meine Beweise vor. Jedes Mal wurde mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Nach der siebten Ablehnung verstand ich. Das System, dem ich zwanzig Jahre lang gedient hatte, schützte einen Mörder.
Also nahm ich das Gesetz in meine eigenen Hände.
Ich entführte die Tochter des Leitenden Oberstaatsanwalts.
Jetzt schaute die ganze Welt zu. Eine versteckte Kamera übertrug mein Gesicht, meine Stimme, meine Entschlossenheit auf jeden Bildschirm im Land.
„Mein Name ist Carola Thierse.“
In dem sterilen, weißen Raum, den ich vorbereitet hatte, lag die achtjährige Lina Steinhoff auf einem Untersuchungstisch, identisch mit dem, auf dem ich meinen Sohn das letzte Mal gesehen hatte. Sie war sediert, friedlich, ahnungslos von dem Sturm, den ihre Entführung ausgelöst hatte.
„Ich habe meine eigenen Beweise untersucht. Mein Sohn, Dustin Thierse, wurde ermordet.“
Ich blickte direkt in die Kamera, mein Blick auf den Mann gerichtet, von dem ich wusste, dass er auf der anderen Seite war. Leitender Oberstaatsanwalt Bernd Steinhoff.
„Sie haben sieben Chancen. Sieben, für die sieben Male, die Sie mir die Gerechtigkeit verweigert haben. Sie werden den echten Unfallbericht veröffentlichen, und Sie werden den Namen des Mörders nennen.“
Ich nahm das erste Werkzeug von einem Stahltablett. Es war ein steriler, medizinischer Hauttacker. Sein metallischer Glanz fing das Licht ein.
„Für jede Chance, die Sie verstreichen lassen, werde ich ein forensisches Werkzeug an Ihrer Tochter anwenden. Es wird sie dauerhaft entstellen.“
Die Übertragung schaltete auf einen geteilten Bildschirm um. Mein kaltes, entschlossenes Gesicht auf der einen Seite, die panischen, tränenüberströmten Gesichter von Bernd und Silke Steinhoff auf der anderen. Sie waren in einer Einsatzzentrale der Polizei, umgeben von Beamten.
„Carola, bitte! Um Himmels willen, tun Sie das nicht!“, flehte Bernd, seine Stimme brach. „Die Beweise sind eindeutig! Ihr Sohn hatte Probleme. Es war eine Tragödie, ein Selbstmord!“
Seine Frau, Silke, eine Frau, die für ihre eiskalte Beherrschung bekannt war, war ein nervliches Wrack. „Sie ist nur ein kleines Mädchen! Bitte, was auch immer Sie wollen, wir geben es Ihnen! Lassen Sie unsere Lina einfach gehen!“
Das Internet explodierte. Die Kommentare, die an der Seite des Livestreams scrollten, waren ein Sturzbach des Hasses.
Monster.
Sie ist wahnsinnig! Bratet sie!
Wie kann eine Mutter das der Mutter eines anderen Kindes antun?
Ich ignorierte sie. Ihre Worte waren bedeutungsloses Rauschen. Ich schaute auf die Uhr an der Wand. Zehn Minuten waren vergangen.
„Ihre erste Chance ist vertan, Herr Steinhoff.“
Meine Hand war ruhig. Meine professionelle Gelassenheit, die an dem Tag zerbrochen war, als ich meinen Sohn verlor, war zurückgekehrt, umfunktioniert zu etwas Kaltem und Schrecklichem. Ich drückte den Tacker auf die weiche Haut von Linas Oberarm.
Klick.
Das kleine Mädchen wimmerte im Schlaf, eine kleine Falte bildete sich auf ihrer Stirn. Eine einzelne, silberne Klammer durchbohrte nun ihre Haut.
„Ich warte auf die Wahrheit“, sagte ich, meine Stimme so steril wie der Raum um mich herum. „Und ich weiß, dass der Mörder zusieht.“
Auf dem anderen Bildschirm stieß Silke Steinhoff einen Schrei aus, der im Chaos der Einsatzzentrale unterging. Bernds Gesicht war eine Maske aus purem Entsetzen und Unglauben.
Er starrte in die Kamera, seine Augen weit aufgerissen vor einem Schrecken, der endlich, endlich real war.
„Sie sind ein Dämon!“, schrie er. „Sie sind ein Monster!“
Ein Kriminalbeamter, mein ehemaliger Kollege, Kommissar Müller, trat ins Bild. „Carola, denken Sie darüber nach, was Sie tun. Denken Sie an Dustin. Sie haben seine Leiche untersucht. Sie wissen, was es bedeutet, die Toten zu respektieren.“
Der Kommentar-Feed scrollte schneller.
Sie ist nicht nur eine Entführerin, sie ist ein Ghul.
Sie hat die Leiche ihres eigenen Sohnes angefasst? Krank.
Ich wusste, dass Dustin kein Selbstmörder war. Ich erinnerte mich, wie ich ihn auf dieser kalten Metallplatte gefunden hatte. Sie hatten versucht, ihn zu säubern, aber sie konnten die Wahrheit nicht auslöschen. Der Schmutz unter seinen Nägeln stammte nicht aus einem Park; es war Schotter vom Seitenstreifen der B96. Das Fentanyl in seinem System war eine hohe Dosis, ja, aber die Einstichstelle war ungeschickt, amateurhaft, nicht etwas, das sich eine Person selbst antun würde.
Und die Leichenflecken, die Art, wie sich das Blut in seinem Körper abgesetzt hatte, erzählten eine Geschichte. Er war auf dem Rücken liegend gestorben, nicht in einem Park zusammengekauert, wie es im offiziellen Bericht hieß.
Weil ich seine Mutter war, hatten sie meinen Mentor, Dr. Gregor Huber, mit dem Fall betraut und einen Interessenkonflikt angeführt. Ich vertraute ihm. Er hatte mir alles beigebracht, was ich wusste.
Dann kam sein Bericht zurück. Selbstmord durch Überdosis.
Ich verlangte, die Beweise selbst zu sehen. Als ich die Lacksplitter an Dustins Jeans fand, die der offizielle Bericht praktischerweise übersehen hatte, wusste ich es. Ich präsentierte sie in meinem ersten Widerspruch. Abgelehnt.
Ich präsentierte die Schotteranalyse in meinem zweiten. Abgelehnt.
Ich präsentierte den fehlerhaften toxikologischen Zeitablauf in meinem dritten. Abgelehnt.
Für meinen siebten und letzten Widerspruch präsentierte ich einen 3D-Scan seines Beins, der das unverkennbare Spiralbruchmuster zeigte, das entsteht, wenn eine Autostoßstange einen Fußgänger trifft. Es war unwiderlegbar.
Sie lehnten es ohne Kommentar ab.
Da wusste ich, dass das Gesetz eine Lüge war. Da beschloss ich, eine Wahrheit zu schaffen, die der Oberstaatsanwalt nicht ignorieren konnte.
Meine Trauer war verbrannt und hatte nur einen kalten, harten Zweck hinterlassen. Ich würde Gerechtigkeit für Dustin bekommen, oder ich würde ihre Welt niederbrennen.