Sie nannten mich einen wertlosen Ersatz, einen Platzhalter mit ihrem Gesicht.
Das Fass zum Überlaufen brachten sie, als sie mich an ein Seil fesselten und mich an einer Klippe hängen ließen, um zu sterben.
Aber ich starb nicht. Ich kletterte wieder hoch, täuschte meinen Tod vor und verschwand. Sie wollten einen Geist. Ich beschloss, ihnen einen zu geben.
Kapitel 1
Aus der Sicht von Bailey Douglas:
Fünf Jahre lang war Jameson Wagner die Sonne, um die sich meine Welt drehte. Fünf Jahre lang war ich seine Verlobte, die Frau an seinem Arm bei jeder Gala, diejenige, deren Name im selben Atemzug wie seiner geflüstert wurde. Und in fünf kurzen Minuten stand ich auf einem kalten Linoleumboden auf der anderen Straßenseite und sah zu, wie er meine Zwillingsschwester Haleigh heiratete.
Er hatte tausend Gründe, warum wir es nie selbst zum Standesamt geschafft hatten. Eine milliardenschwere Fusion, die seine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderte. Eine feindliche Übernahme, die nicht verschoben werden konnte. Eine Reise nach Monaco, die er nicht verpassen durfte. Unsere Hochzeit, die echte, mit dem Kleid, das ich ausgesucht hatte, und den Blumen, über die ich mir den Kopf zerbrochen hatte, war immer nur eine Frage der Zeit, ein schimmerndes Versprechen am Horizont.
„Nächstes Frühjahr, Bailey, ich verspreche es“, murmelte er in mein Haar, seine Stimme ein tiefes, berauschendes Grollen, das mich alles glauben ließ. „Ich muss nur diesen Deal abschließen, und dann gehört all meine Zeit dir.“
Ich glaubte ihm. Ich war eine Närrin, aber ich glaubte ihm, weil ich ihn liebte, und ein kleiner, verzweifelter Teil von mir, der sein ganzes Leben lang ausgehungert war, wurde endlich gefüttert. Ich dachte, die Wärme in seinen Augen wäre für mich. Ich dachte, die Art, wie er meine Hand hielt, wäre für mich.
Jetzt, hinter einem staubigen Ficus in einem Café stehend, sah ich zu, wie er Haleigh einen schlichten goldenen Ring an den Finger schob. Dieselbe Haleigh, die ihn vor fünf Jahren am Altar hatte stehen lassen und mit irgendeinem Musiker durchgebrannt war, um ein aufregendes Leben zu jagen, das sie schließlich gebrochen und pleite wieder ausgespuckt hatte.
Die Standesbeamtin, eine Frau mit einem müden Gesicht, stempelte das Dokument. Jameson blickte nicht einmal aus dem Fenster. Seine Welt befand sich in diesem sterilen Raum.
Die Tür des Standesamtes schwang auf, und sie traten hinaus in das grelle Münchner Sonnenlicht. Haleigh, meine eineiige Zwillingsschwester, sah strahlend aus. Man hätte nie gedacht, dass sie im Sterben lag. Das war zumindest ihre Geschichte. Bauchspeicheldrüsenkrebs im vierten Stadium. Ein „letzter Wunsch“, endlich den Mann zu heiraten, den sie so achtlos weggeworfen hatte.
Sie drückte die Heiratsurkunde an ihre Brust, ein leuchtend weißer Blitz gegen ihr purpurrotes Kleid. Es war eine Siegesflagge. Sie schwenkte sie, nicht zu jemand Bestimmtem, sondern als ob sie es der ganzen Welt zeigen wollte. Sie hatte gewonnen. Wieder einmal.
„Oh, Jameson“, schluchzte sie, ihre Stimme dick von falschen Tränen. „Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, was ich dir vor fünf Jahren angetan habe. Ich war so dumm.“
Sie drehte sich um, und zum ersten Mal trafen ihre Augen, meine Augen, mich auf der anderen Straßenseite. Ein langsames, triumphierendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Aber sag mir, Jameson“, sagte sie, ihre Stimme hallte an diesem ruhigen Nachmittag über die Straße, laut genug, damit ich jede Silbe hören konnte. „Hast du sie jemals wirklich geliebt? Oder war sie nur ich?“
Die Zeit blieb stehen. Die gelben Taxis verschwammen zu einem bedeutungslosen Farbfluss. Das Tosen der Stadt verklang zu einem dumpfen Summen. Ich beobachtete Jameson, meinen Jameson, den Mann, der mich unzählige Nächte gehalten, der meine Tränen weggeküsst, der geschworen hatte, er würde mich sehen.
Sein Kiefer war angespannt. Er antwortete nicht. Eine Sekunde. Zwei. Zehn. Ein ganzes Leben.
Meine Lungen brannten. Eine kalte Furcht, schwer und dick wie nasser Zement, begann mich von innen heraus zu erfüllen.
Endlich sah er mich an, sein Blick leer, der Blick eines Fremden. „Dich lieben?“, wiederholte er Haleighs Frage, aber seine Worte waren an mich gerichtet. Ein Urteil. Eine Hinrichtung.
„Bailey“, sagte er, und mein Name auf seinen Lippen war eine Beleidigung. „Sie ist Haleigh.“
Und da war es. Die Wahrheit, die ich fünf Jahre lang so getan hatte, als wäre sie nicht wahr. Ich war nicht Bailey. Ich war nur nicht Haleigh. Ein Platzhalter. Ein Ersatz. Ein bequemer Stellvertreter mit demselben Gesicht.
Haleighs vorgetäuschte Tränen verschwanden, ersetzt durch ein glitzerndes, siegreiches Grinsen. Sie warf ihre Arme um Jamesons Hals und küsste ihn, ein tiefer, besitzergreifender Kuss, der ihren Anspruch geltend machte. Er küsste sie zurück, seine Hände verfingen sich in ihrem Haar, genau wie sie es millionenfach in meinem getan hatten.
Die Welt kippte, und ich stolperte zurück, meine Hand flog zu meinem Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, das sich anfühlte, als würde es mich in zwei Teile reißen.
Das war es also. Es war alles eine Lüge.
Eine schwarze Limousine quietschte am Bordstein zum Stehen. Die Türen flogen auf, und meine drei älteren Brüder – Dirk, Benedikt und Konrad – stürmten heraus, ihre Gesichter von einem Lächeln umrahmt.
„Wir sind gekommen, sobald wir es gehört haben!“, dröhnte Dirk, der Älteste, und hielt eine Flasche Champagner hoch. „Das muss gefeiert werden!“
Sie eilten zu Haleigh, umarmten sie in einer Gruppenumarmung, ihre Stimmen eine Kakophonie aus Sorge und Bewunderung.
„Haleigh, geht es dir gut?“
„Du solltest nicht aus dem Bett sein!“
„Lass uns dich nach Hause bringen.“
Meine Brüder. Meine Beschützer der letzten fünf Jahre. Diejenigen, die mich endlich, endlich mit der Wärme behandelt hatten, nach der ich mich mein ganzes Leben lang gesehnt hatte. Sie würdigten mich nicht einmal eines Blickes. Ich war unsichtbar. Ein Geist beim Festmahl ihrer Wiedervereinigung.
Ich stand da, zitternd, als sie Haleigh, die siegreiche Heldin, ins Auto verfrachteten. Jameson folgte, seine Hand schützend auf ihrem Rücken.
Die Autotür schlug zu, und sie waren weg.
Sie ließen mich auf dem Bürgersteig zurück, ein vergessenes Accessoire eines Lebens, das nie wirklich meins gewesen war.
Meine Knie gaben nach. Ich fiel nicht, aber ich fing mich an der kalten Glasscheibe des Cafés auf. Der Schmerz des Aufpralls war ein ferner, unwichtiger Schmerz.
Ich wurde drei Minuten nach Haleigh geboren. Von diesem Moment an lebte ich in ihrem Schatten. Sie war die strahlende, lebenslustige, diejenige, die unsere Eltern, unsere Brüder, jeden, den sie traf, bezauberte. Ich war der stille, vergessene Ersatz. Sie bekam das Lob; ich bekam die abgelegten Sachen. Sie bekam die Hauptrolle im Schultheater; ich war im Chor. Sie bekam Jameson Wagner, den Erben der Wagner AG, den begehrtesten Junggesellen Münchens; ich durfte von der Seitenlinie zusehen, mein Herz ein stiller, schmerzender Zuschauer.
Dann rannte sie weg. Ließ ihn am Altar mit nichts als einem Zettel stehen. Die Familie Douglas war gedemütigt. Die Familie Wagner war wütend. Meine Brüder, die sie vergöttert hatten, schworen, sie hätten keine Schwester namens Haleigh mehr. „Du bist jetzt unsere einzige Schwester, Bailey“, hatte Konrad mir gesagt, seine Hand auf meiner Schulter, seine Augen hart.
Eine Woche später stolperte ein betrunkener und gebrochener Jameson in meine Wohnung. Er hatte Haleighs Namen gerufen, seine Hände umrahmten mein Gesicht, sein Atem schwer von Whiskey und Trauer. „Warum hast du mich verlassen, Haleigh?“, hatte er gelallt, sein Daumen strich über meinen Wangenknochen, meine Kieferlinie – unsere Kieferlinie.
Er sah in meine Augen und sah sie. Und in diesem Moment seiner Verzweiflung machte er mir ein Angebot. „Heirate mich, Bailey“, hatte er geflüstert, seine Stimme brach. „Zeigen wir es ihnen. Zeigen wir es ihr.“
Ich war so verzweifelt in ihn verliebt. Ich wusste, es war falsch. Ich wusste, ich war ein Ersatz. Aber ich dachte, ich betete, dass er mit der Zeit lernen würde, mich zu sehen. Nur mich.
Also sagte ich ja.
Fünf Jahre lang war es ein Traum. Jameson überschüttete mich mit Zuneigung. Er kaufte mir eine Galerie, um meine Bilder auszustellen. Wir reisten um die Welt. Er hielt mich und sagte mir, ich sei wunderschön. Meine Brüder, Dirk, Benedikt und Konrad, wurden die älteren Brüder, von denen ich immer geträumt hatte. Sie nahmen mich zu Spielen mit, brachten mir bei, wie man investiert, riefen an, nur um nach mir zu sehen. Sie waren beschützend, warmherzig, präsent.
Zum ersten Mal in meinem Leben glaubte ich, geliebt zu werden. Wahrhaftig geliebt für die, die ich war.
Dann, vor zwei Wochen, kam Haleigh zurück.
Und einfach so zerplatzte der Traum. Die Liebe, die Zuneigung, der Schutz – alles schnellte wie ein Gummiband zu ihr zurück und ließ mich mit nichts als der stechenden Leere zurück, wo es früher gewesen war.
Ein ersticktes Lachen entkam meinen Lippen, ein schmerzhafter, gebrochener Laut, der sich in ein Schluchzen verwandelte. Tränen strömten über mein Gesicht, heiß und nutzlos. Ein Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, machte einen weiten Bogen um mich, sein Ausdruck eine Mischung aus Mitleid und Besorgnis.
Ich war eine Statistin. Eine vorübergehende Lösung. Ein Produkt im Regal, in makellosem Zustand gehalten, bis das Original wieder auf Lager war.
Nicht mehr.
Der Gedanke war ein Funke in der überwältigenden Dunkelheit.
Ich werde kein Ersatz mehr sein.
Ich stieß mich vom Fenster ab, meine Bewegungen steif und roboterhaft. Meine Beine fühlten sich an wie Blei, aber ich zwang sie, sich zu bewegen. Ich würde nicht in die Villa zurückkehren, die sie alle teilten. Ich würde nicht zurückkehren, um ihr Schatten zu sein.
Ich wischte mir die Tränen mit dem Handrücken ab, eine nutzlose Geste. Sie wurden bereits durch neue ersetzt.
„Ich werde nicht“, flüsterte ich der gleichgültigen Stadt zu. „Ich werde eure Almosen an Zuneigung nicht annehmen. Ich werde euer Mitleid nicht annehmen.“
Ein tiefsitzender, markerschütternder Schmerz schoss durch meine Brust. Ein Schmerz, so tief, dass er sich körperlich anfühlte. Ich krümmte mich für eine Sekunde und rang nach Luft.
Dann richtete ich mich auf.
Ich ging, ohne zu wissen, wohin, bis ein elegantes, schwarzes Taxi neben mir hielt. Ohne nachzudenken, stieg ich ein.
„Wohin, gnädige Frau?“, fragte der Fahrer.
Eine Adresse kam mir in den Sinn. Der Hauptsitz einer exklusiven Immobilienfirma, die sich auf die Portfolios der Superreichen spezialisiert hatte, eine Firma, die meine Großmutter genutzt hatte. Ein Treuhandfonds, den sie mir hinterlassen hatte, unberührt und vergessen, fühlte sich plötzlich wie eine Rettungsleine an.
„Sotheby's International Realty in der Maximilianstraße“, sagte ich mit heiserer Stimme.
Vierzig Minuten später saß ich in einem weichen Ledersessel gegenüber einem Mann namens Herr Abernathy. Sein Anzug war tadellos, seine Besorgnis echt, aber diskret.
„Fräulein Douglas“, sagte er sanft, „wie können wir Ihnen helfen?“
Ich holte tief Luft, die in meinen Lungen zitterte. Ich begegnete seinem Blick, mein eigenes Spiegelbild ein geisterhaftes Bild in seinen Pupillen.
„Ich möchte eine Insel kaufen“, sagte ich, meine Stimme überraschend fest. „Die abgelegenste, unbewohnteste und unzugänglichste, die Sie haben.“