Wie konnten sie sie Fremden übergeben, sodass sie am Ende im Albtraum von Urygan landete?
Die letzten Worte ihrer Pflegeeltern hallten in ihr nach. „Du bist Nadine Clark, das unerwünschte Kind, verstoßen von deinem eigenen Blut.“
Es war Schmerz und die Hoffnung, eines Tages ihren leiblichen Eltern gegenüberzutreten, verliehen ihr die Kraft, alles in Urygans Dunkelheit Erlebte zu ertragen.
Sie war gerade im Begriff, die Straße zu überqueren, als ein harsches Geräusch aus einer schmutzigen Gasse nur wenige Schritte entfernt ertönte.
Im Schatten lag ein Mann, der eigentlich aufrecht stehen sollte, stattdessen zusammengesackt am Boden, während ein viel kleinerer, bösartig dreinblickender Kerl gnadenlos auf ihn einschlug.
„Du glaubst immer noch, du wärst irgendein Familie Clark, der hier das Sagen hat? Wach auf! Glaubst du, du bekommst Medikamente für deine verrückte Mutter?“
Ohne zu zögern hob der kleinere Mann seinen Stiefel und trat brutal auf die ausgestreckte Hand des Mannes am Boden.
Das Knacken brechender Knochen durchschnitt die Luft.
Der große Mann krümmte sich vor Schmerz, sein Körper bebte, ein ersticktes Stöhnen brach aus ihm hervor.
Trotz der Qual löste sich seine Hand nicht von dem Bündel, das er fest an sich gedrückt hielt.
Nadine beobachtete das Geschehen aus dem Schatten und verspürte einen seltsamen Schmerz in ihrer Brust, dann tauchte sie ohne zu zögern hinter dem Angreifer des Mannes auf.
Ein knackender Laut hallte durch die Gasse. Ein Schrei entfuhr dem kleineren Mann, als er zu Boden stürzte und sich schockiert den Knöchel hielt.
„Hast du einen Todeswunsch oder was?“, fragte Nadine, ihre Stimme kalt und unnachgiebig.
Wimmernd am Boden spuckte der Schläger Flüche zwischen seinen Schluchzern hervor. „Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst, du kleine Schlampe. Du bist erledigt…“
Bevor er zu Ende sprechen konnte, presste Nadine ihren Schuh fest auf seinen verletzten Knöchel.
Seine Schreie hallten durch die Gasse, Verzweiflung verzerrte sein Gesicht. „Bitte! Es tut mir leid, ich schwöre! Ich wusste es nicht, ich mach's nie wieder, lass mich einfach gehen!“
Nadines Stimme blieb flach und eisig. „Verschwinde.“
Keine Sekunde später sprang der Schläger auf und hetzte aus der Gasse davon.
Im nächsten Moment trat eine ganz in Schwarz gekleidete Person aus dem Schatten und reichte ihr eine Mappe.
„Chefin“, sagte er respektvoll. „Hier ist alles über die Familie Clark, einschließlich der Wahrheit über Ihr Verschwinden vor all den Jahren.“
Nadine schlug die Mappe auf, ihre Augen weiteten sich, während sie die Zeilen auf jeder Seite aufsog.
Vor mehr als zwei Jahrzehnten war die kleine Tochter der Familie Clark direkt vor ihrer Haustür von Menschenhändlern entführt worden.
Dieser Moment hatte eine einst gefeierte Familie zerstört und in einen Abgrund gerissen, aus dem sie sich nie wieder erholt hatten.
Ihre Mutter, Stacey Clark, verlor den Bezug zur Realität und wurde vom Wahnsinn überwältigt.
Ihr Vater, Jordy Clark, brach kurz darauf gesundheitlich zusammen, sein Zustand verschlechterte sich, bis jede Hoffnung erlosch.
Brad Clark, der älteste Bruder und begabte Pianist, gab seine Träume auf und ließ sich auf eine wohlhabende Ehe ein, um seinen Eltern Medikamente kaufen zu können.
Kaden Clark, der zweitälteste Bruder, einst der Star des Polizeireviers, wurde hereingelegt, verhaftet und für ein Verbrechen eingesperrt, das er nie begangen hatte.
Jacob Clark, der Jüngste, wandte sich der Unterwelt der Stadt zu, verzweifelt bemüht, Kaden zu entlasten und seine verschwundene Schwester zu finden. Seine Bemühungen ließen ihn nur geschlagen und machtlos zurück, herumgestoßen von jedem, der sich ein kleines bisschen Macht einbildete.
Obwohl die Familie fast alles verloren hatte, kratzten sie jeden Cent zusammen, gaben die Suche nach Nadine nie auf und investierten sogar Millionen in ein Unterfangen, das alle anderen als hoffnungslos betrachteten.
Nadines Hände zitterten, als sie das Ende der Akte erreichte. Die Wut, die sie all die Jahre getragen hatte, zerfiel in einem einzigen Augenblick.
Sie war nie im Stich gelassen worden.
Es hatte immer jemanden gegeben, der sich nach ihr zurückgesehnt hatte.
Ein Rascheln lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den hochgewachsenen Mann, der blutüberströmt und geschunden mühsam auf die Beine kam.
Er erstarrte, als sein Blick auf Nadine fiel, und unter dem Blut und Schmutz erkannte er sie.
Dann, halb stolpernd, halb rennend, streckte er die Arme nach ihr aus. „Nadine! Bist du es wirklich? Ich bin Jacob, dein Bruder!“
Wie erstarrt wiederholte Nadine: „Jacob?“
Jacob nickte heftig, seine Stimme schwankte vor Gefühlen. „Ich bin's! Wir haben nie aufgehört, nach dir zu suchen. Ich kann nicht glauben, dass du endlich wieder zuhause bist!“