Ich verstand nicht, wie die Männer, die mir einst Schutz geschworen hatten, mich für eine Betrügerin verstoßen konnten, die unsere Familie zerstörte.
In dieser Nacht, verlassen und blutend im Regen, bot mir mein Mentor eine Flucht an: ein 15-jähriges, streng geheimes Forschungsprojekt. Ich nahm an, ließ Beweise für Madlens Betrug zurück und verschwand. Fünfzehn Jahre später kehrte ich als weltberühmte Wissenschaftlerin zurück, bereit, meine Brüder mit der Wahrheit zu konfrontieren, die sie einst nicht sehen wollten.
Kapitel 1
CARLA STELLER: Perspektive
Das Urteil meiner Brüder traf mich härter als jeder Schlag, den ich jemals hätte ertragen können. 150.000 Euro. Meine Zukunft. Mein Traum vom Masterstudium in Zürich, die Tür zu allem, was ich mir je erhofft hatte. Alles war weg. Nicht verloren, nicht gescheitert, sondern bewusst genommen. Für Madlen. Für ihre angebliche, kostspielige medizinische Behandlung, die sie mit einem Lächeln inszenierte, das mir wie eine scharfe Nadel ins Herz stach. Felix, mein ältester Bruder, der zukünftige CEO von Steller Ingenieure, sah mich mit einer Miene an, die kälter war als der Winter in den Alpen. Er sah mich an, als wäre ich eine Unbekannte, eine Belastung. Als ich versuchte, zu argumentieren, meine Stimme zitterte vor Verzweiflung und Unglauben, schnitt er mir das Wort ab.
„Sie braucht es, Carla ", sagte er. Seine Stimme war rau, ohne Spur der Wärme, die ich einmal gekannt hatte. „Es ist unsere Pflicht. Ihr Vater hat sein Leben für uns gegeben. "
Claudius, mein jüngerer Bruder, der immer der Emotionale von uns dreien gewesen war, vermied meinen Blick. Seine Schultern waren hochgezogen, fast so, als wollte er sich hinter Felix verstecken. Er sagte nichts. Sein Schweigen war lauter als jeder Vorwurf. Wenige Minuten später stand ich mit einer Reisetasche vor der Haustür. Sie hatten mich rausgeworfen. Einfach so. Das Haus, das mein Zuhause war, seit ich mich erinnern konnte – seit unsere Eltern starben und sie meine einzigen waren – war es nicht mehr.
Ich hatte mich nie damit abfinden können, dass sie Madlen so schützten. Nicht, nachdem ich ihr wahres Gesicht gesehen hatte. Ihr verstorbener Vater war ein angesehener Mitarbeiter gewesen, ja, aber Madlen war kein zerbrechliches Opfer. Sie war eine begnadete Manipulatorin. Aber meine Brüder sahen es nicht. Sie sahen nur ihre Schuld. Und ich? Ich war plötzlich die Böse, die Undankbare, die Eifersüchtige.
Als Weihnachten näher rückte, spürte ich eine seltsame Mischung aus Hoffnung und Angst. Vielleicht, dachte ich naiv, würden die Feiertage alles ändern. Vielleicht würde die alte Wärme zurückkehren, die uns einst verbunden hatte. Das war vor all dem passiert. Bevor Madlen kam und einen Keil zwischen uns trieb. Ich beschloss, den ersten Schritt zu machen. Ich rief Felix an. Er nahm nicht ab. Ich rief Claudius an. Dasselbe Spiel. Ich wählte Madlens Nummer.
Es klingelte lange. Zu lange. Ich war gerade dabei aufzulegen, als eine unbekannte Nummer auf meinem Display erschien. Es war Felix.
„Was willst du? ", bellte er, noch bevor ich meinen Namen sagen konnte. Die Kälte in seiner Stimme ließ mein Herz zusammenschnurren.
„Ich… ich wollte fragen, ob wir Weihnachten zusammen verbringen wollen? ", stammelte ich. „Ich habe… ich habe Geschenke für euch und Madlen besorgt. "
Ein kurzes, trockenes Lachen auf der anderen Seite der Leitung. Es war Madlen. Ihre Stimme war süßlich, fast zu süß. „Oh, Carla, das ist ja nett. Aber du weißt doch, wie sensibel ich bin. Nach all dem, was passiert ist… Felix und Claudius wollen nicht, dass ich mich aufrege. "
Mein Magen zog sich zusammen. „Was ist passiert? ", fragte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Ach, du weißt schon ", sagte sie mit einem Seufzer, der mich erschaudern ließ. „Diese Sache mit deinen Forschungspapieren. Ich habe mich so erschreckt, als sie kaputtgegangen sind. Und dann diese ganze Aufregung… "
„Ich habe meine Forschungspapiere nicht kaputt gemacht! ", rief ich, meine Stimme brach. „Das warst du! Du hast meine Arbeit zerstört! "
„Carla, das reicht! ", donnerte Felix' Stimme, die Madlens Schmeicheleien durchbrach. „Hör auf, Madlen die Schuld in die Schuhe zu schieben! Sie ist immer noch sehr krank! "
Madlen lachte leise. „Es ist schon in Ordnung, Felix. Carla meint es nicht so. Sie ist nur ein bisschen… eifersüchtig. "
Eifersüchtig? Auf mein eigenes gestohlenes Leben? Mir wurde schwindelig. Ich presste die Hand gegen die Stirn. „Ich verstehe ", sagte ich. Meine Stimme war überraschend fest. „Nein. Ich werde nicht zu diesem Restaurant kommen. Diese Geschenke werfe ich weg. Ihr habt mein Leben zerstört. " Ich legte auf, ohne auf eine Antwort zu warten.
Ich stand da, starrte auf mein Telefon. Madlen hatte gewonnen. Schon wieder.
Ich packte meine Geldbörse. Die letzten Ersparnisse, die ich noch hatte, würden für die Geschenke draufgehen. Sie waren nicht für mich gedacht, sondern für sie. Für einen letzten, verzweifelten Versuch, eine Brücke zu schlagen, die längst verbrannt war. Ich kaufte Felix einen seltenen Jahrgangswein, den er liebte, und für Claudius ein handgebundenes Erstausgabe-Buch seines Lieblingsautors. Für Madlen... für Madlen kaufte ich einen teuren Seidenschal, das ich selbst gerne gehabt hätte. Ein Schal in der Farbe des Himmels, der meine Augen zum Leuchten gebracht hätte. Ich wickelte es sorgfältig ein, meine Finger zitterten leicht.
Als ich zum Restaurant fuhr, spürte ich, wie sich mein Magen zusammenzog. Die Stadt war hell erleuchtet, die Weihnachtslichter blendeten. Ich trug die drei sorgfältig verpackten Geschenke. Meine Hände froren, trotz der Handschuhe. Ich war zu früh. Das Restaurant war schon gut besucht, aber der Tisch, den Madlen genannt hatte, war noch leer. Ich sah sie am Fenster, wie sie lachend mit Felix und Claudius plauderte. Sie sah blendend aus in einem neuen, maßgeschneiderten Kleid, das ich mir nie hätte leisten können. Ein Kleid, das sie sich mit meinem Geld gekauft hatte.
Ich betrat das Restaurant. Kein Platz für mich. Niemand hatte an mich gedacht. Der Tisch war für drei Personen gedeckt. Ich fand eine kleine, leere Nische abseits des Haupttisches, versteckt hinter einer großen Weihnachtspalme. Ich wollte nicht auffallen. Ich wollte nur meine Geschenke abgeben und verschwinden. Doch sie hatten mich schon bemerkt. Felix' Blick traf meinen und erstarrte. Dann wurde er hart. Claudius zuckte zusammen und sah schnell weg. Nur Madlen lächelte. Ein triumphierendes Lächeln.
Ich positionierte mich an meinem kleinen Tisch, so dass ich sie sehen konnte, aber nicht im Mittelpunkt stand. Ich wollte keine Szene machen. Ich wollte nur, dass dieser Abend so schnell wie möglich vorbei war. Félix' anfängliche Überraschung wich schnell der üblichen Härte, als er sich wieder Madlen zuwandte, ihr Haar sanft streichelte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Claudius, er war anders. Er war leiser, achtete auf Madlens jedes Wimpernzucken und füllte ihr Glas nach, bevor es leer war. Er war ihr Ritter.
Madlen lachte, ein klares, fröhliches Geräusch. Sie trug gerade einen neuen, roten Wollschal, der ihre Augen betonte. Sie drehte sich spielerisch um und wirbelte dabei herum. „Oh, Felix, schau mal, wie schön dieser Schal ist! ", rief sie, und ihre Augen strahlten. „Ich liebe ihn! " Ich sah, wie sie ihre Hand ausstreckte und nach dem roten Ding griff, das ihr an diesem Abend so viel Freude bereitete. Doch sie übersah etwas. Sie stolperte. Ein leises Quieken entwich ihr, als sie das Gleichgewicht verlor.
„Madlen! ", riefen Felix und Claudius gleichzeitig, ihre Stimmen voller Panik. Sie sprangen auf, um sie aufzufangen. Sie umringten sie sofort, ihre Gesichter waren voller Sorge. Ich hörte sie flüstern: „Ist alles in Ordnung? Hast du dich verletzt? " Madlen nickte, ihre Augen waren tränenfeucht, aber ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen.
In diesem Moment, als ich sie so sah, umgeben von der Fürsorge meiner Brüder, erinnerte ich mich an eine Zeit, in der ich diejenige gewesen war, die so beschützt wurde. An eine Zeit, in der ihre besorgten Blicke nur mir gegolten hatten. Doch dieser Gedanke war wie ein Stich in mein Herz. Ihre warmen, besorgten Blicke, die eben noch Madlen gegolten hatten, trafen jetzt auf mich. Und sie waren kalt. Eiskalt.
Der Schmerz, der durch meinen Körper zuckte, war unerträglich, aber der Schmerz in meiner Brust war schlimmer. Ich senkte den Blick. „Ich kann helfen ", sagte ich, meine Stimme war heiser. Ich wollte nur, dass sie mich nicht so ansahen. Ich wollte einfach nur nützlich sein, um ihre kalten Blicke zu vermeiden. Ich wollte den Schal aufheben, um den sie sich alle so sorgten.
Ich bückte mich, um den roten Wollschal aufzuheben, der auf dem Boden lag. Mein Blick war nach unten gerichtet, ich wollte nur meine Pflicht erfüllen. Doch in meiner hastigen Bewegung stieß ich an die Tischkante. Ein scharfer Schmerz durchfuhr meine Schläfe, als ich mir den Kopf stieß. Ich wankte, meine Hand fuhr zum Kopf. Die Schmerzen waren unerträglich, aber noch bevor ich mich fassen konnte, hörte ich Felix' wütende Stimme.
„Carla! Was machst du denn schon wieder für ein Drama? Musst du immer die Aufmerksamkeit auf dich ziehen?! "
Ich erstarrte, meine Hand noch immer an meiner schmerzenden Schläfe. Ich konnte nichts sagen. Meine Lippen trennten sich, aber keine Worte kamen heraus.
„Es ist schon in Ordnung, Felix ", hörte ich Madlens leise, fast schon liebevolle Stimme. Sie legte ihre Hand auf Felix' Arm, als wollte sie ihn besänftigen. „Carla hat es sicher nicht absichtlich gemacht. Sie ist nur ein bisschen… ungeschickt. "
Ich schloss die Augen. Der Schmerz in meinem Kopf war stechend, aber Madlens Worte trafen mich tiefer. Ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog. Ich richtete mich auf, biss die Zähne zusammen.
„Carla, siehst du nicht, was du anstellst? ", fuhr Felix fort. „Du bist so manipulativ! Du willst nur Mitleid, weil Madlen krank ist. Du bist einfach nur neidisch, dass sie glücklich ist! "
Die Worte trafen mich wie Faustschläge. Manipulativ. Mitleid. Neidisch. War das alles, was ich für sie war? Ich spürte, wie meine Tränen in meinen Augen brannten, aber ich weigerte mich, sie fallen zu lassen. Ich durfte jetzt nicht weinen. Nicht hier. Nicht vor ihnen. Nicht vor Madlen. Ich drehte mich um und wollte zum Ausgang gehen. Der Schmerz in meinem Kopf pochte, aber ich ignorierte ihn. Ich war es leid. Einfach nur leid. Meine Geschenke, die ich doch mit so viel Hoffnung gekauft hatte, ließ ich auf dem Tisch liegen. Ich wusste nur, dass ich hier raus musste. Jetzt.
Ich stolperte fast über meine eigenen Füße, als ich das Restaurant verließ. Die kalte Luft schlug mir ins Gesicht, aber ich spürte nichts mehr. Nur eine Leere. Eine taube Leere.